Im Radsport ist nicht nur das größte Mehretappenrennen für Profis in Frankreich zu Hause (die Tour de France), sondern auch die Mutter aller Brevets für Randonneure: Paris-Brest-Paris. Irgendwie hatte ich mich seit Anfang des Jahres dafür begeistert. Und dann über eine Serie von Vorbereitungs-Brevets auch qualifiziert und angemeldet. Dabei hatte ich nicht wirklich eine Ahnung, was mich erwartet. Oder anders ausgedrückt: Was es bedeutet, innerhalb von 90 Stunden eine Strecke von 1200 Kilometern mit dem Fahrrad zurückzulegen.

Zumindest hatte ich mir bei meiner dreiwöchigen Radtour durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich das nötige Training dafür besorgt. Wobei es bei meinen kürzeren Brevets nicht direkt der sportliche Aspekt war, der mir Probleme bereitete, sondern eher die Leidensfähigkeit der Kontaktpunkte meines Körpers mit dem Fahrrad. Also Handballen, Fußsohlen und – ganz wichtig – der Hintern. Und letzterer war auch nach etlichen hundert Radtour-Kilometern nie völlig schmerzfrei. Aber was soll’s, mit einer zweiten Radhose zum Drunterziehen sowie einem extra Gelpolster für den Sattel wähne ich mich gut ausgerüstet.

Im Mietwagen nach Rambouillet

Aber schon die Planung gestaltet sich schwierig. Es ist unmöglich, an den von uns gewünschten Daten eine Zugverbindung zwischen Paris und Saarbrücken zu finden, die die Mitnahme von Fahrrädern erlaubt. Offensichtlich sind die verfügbaren Plätze schon von anderen Randonneuren belegt. Also machen wir aus der Not eine Tugend und mieten ein Auto, in das mein Rad reinpasst. Damit fahre ich drei Tage vor dem Start nach Rambouillet, wo es am Sonntag abend losgehen soll. Im Nachhinein bin ich über das Auto vor Ort sehr glücklich, bietet es mir doch eine ideale Basis. Abgesehen von der Abholung der Startunterlagen am Samstag verbringen wir dann noch drei ruhige Tage in Paris.

Vor Ort in Rambouillet ist jedoch sowohl Samstag als auch Sonntag einiges los. Schon der Nahverkehrszug von Paris ist voller Radler aus aller Herren Länder. Gruppen aus China und Russland trifft man genauso wie die Fatbike Randonneurs aus Thailand. Mal ganz zu schweigen von den vielen Deutschen (unter denen ich sogar bekannte Gesichter von meinem 600km-Brevet Mitte Juni in Hessen erblicke), die – abgesehen von den gastgebenden Franzosen – wohl die größte Gruppe darstellen.

Fahrt in die Nacht

Im Laufe des Sonntagnachmittag bereite ich mein Fahrrad und die Ausrüstung vor, und werde dabei eigentlich immer nervöser. Erst als alles fertig ist, ich etwas gegessen habe und es zum Start geht, verfliegt die Anspannung etwas. Jetzt gibt es nunmal kein Zurück mehr. Um kurz nach halb neun verabschiede ich mich von Sandra (die mich in Brest erwarten wird) und Mona, einer mitgereisten Freundin, und nach dem ersten Stempel in einem kleinen Büchlein (das wichtigste Utensil während der nächsten neunzig Stunden) geht es den ersten Kilometer zum eigentlichen Start.

Um 20:45 Uhr ist es dann soweit. Unsere Gruppe mit dem Anfangsbuchstaben U in der Startnummer setzt sich in Bewegung. Nach uns kommt heute nur noch eine Gruppe, 15 Minuten später. Etliche andere sind schon seit 17 Uhr im Viertelstundenabstand gestartet. Mit meinem 16 Kilogramm schweren Stahlfahrrad finde ich mich alsbald im hinteren Teil dieser Gruppe wieder. Aber bereits nach zwanzig Kilometern beginnen die Gruppen, sich zu vermischen. Von hinten kommen die schnellsten aus der folgenden Startgruppe vorbei, während ich bereits einige früher gestartete überhole.

Bereits nach fünfzig Kilometern erwartet einen der erste inoffizielle Verpflegungsstand, wo man mit heißem Kaffe versorgt wird. Hier ist die lokale Bevölkerung am Werk, die diese Veranstaltung zu etwas Besonderem macht. Manchmal muss man einen kleinen Betrag bezahlen, manchmal darf man freiwillig etwas spenden, manchmal bekommt man Kaffee und Kuchen einfach umsonst. Oder wie bei dem Crêpes-Stand in La Tannière, an dem man als Gegenleistung eine Postkarte von zuhause erwartet. Diese Begegnungen mit den Menschen vor Ort treiben einen immer wieder an, und stellen das wirklich Besondere von Paris-Brest-Paris dar.

Nach einem Regenschauer bei Quedillac
Nach einem Regenschauer bei Quedillac

Zeitraubende Kontrollstellen

Wenn man das erste Mal hier mitmacht, versucht man ein wenig, sich an den anderen zu orientieren. Vor dem ersten Kontrollpunkt in Villaines-La-Juhel bei Kilometer 217 belagert eine Gruppe Randonneure eine Bäckerei. Also stelle auch ich mich hier an und erstehe ein paar Schoko-Croissants. Später wird mir klar, dass diese Einkäufe abseits der Kontrollstellen vor allem dazu dienen, die dortigen Schlangen beim Essen zu vermeiden und so ein wenig Zeit zu sparen. An der Kontrolle hole ich mir also nur meinen Stempel ab und gehe auf’s Klo. Dennoch halte ich mich gut 45 Minuten hier auf, um die Atmosphäre aufzusagen, Wasser nachzufüllen, oder auch, um mich mit anderen zu unterhalten.

In diversen Internet-Foren konnte man im Vorfeld lesen, dass man seine Zeit entweder auf dem Rad oder irgendwo schlafend verbringen sollte. In der Tat verliert man eine Menge Zeit alleine mit dem Nötigsten, da der Rad-Parkplatz mitunter ein paar Meter entfernt ist von der Kontrollstelle oder den Toiletten. Klar, ein paar tausend Räder wollten ja auch erstmal geparkt werden. In Loudéac, wo ich um kurz nach elf nachts ankomme, reihe ich mich dann auch noch in die Schlange zum Essen ein. Nudeln mit Hühnchen, das Ganze für 9 Euro. Bei meinen folgenden Essensaufenthalten wird es billiger und die Schlangen sind kürzer, aber diese Erfahrungen muss man erstmal machen. Und wer radfahren will, braucht die Kohlenhydrate nun einmal.

Nach 520 Kilometern, in Carhaix-Plouguer, dämmert es bei meiner Ankunft schon fast. Hier esse ich nicht, sondern lege mich eine dreiviertel Stunde im Gang auf den Boden, um zu schlafen. Der Einzige bin ich nicht, aber vielleicht der Einzige, der seine Kontaktlinsen vorher aus den Augen nimmt. Mit einer Art Dämmwolle, die hier rumliegt, decke ich mich zu, und wache nach einer guten halben Stunde von alleine auf. Dann wird es ganz schwer: Draußen ist es neblig und gefühlt schweinekalt. Ich zittere, und erst nach zwanzig weiteren Minuten kann ich – warm angezogen – die Fahrt fortsetzen. Der folgende Vormittag wird aber recht angenehm, der Nebel verzieht sich und die Sonne kommt raus. Bald kann ich die Jacke wieder ausziehen, ich finde Anschluß an eine gute Gruppe, und die wärmende Sonne weckt die Lebensgeister und begleitet mich nach Brest.

Verpasstes Frühstück

Sandra erwarte mich in Brest in ihrem Hotel, zweihundert Meter von der Strecke entfernt. Aufgrund der Hochrechnung meines Anfangstempos hatte sie ein Frühstück für mich im Hotel bestellt, aber dank des Gegenwindes auf einem Großteil der Strecke habe ich das verpasst. Nichtsdestotrotz: eine knappe Stunde in einem Bett schlafen, eine warme Dusche und ein paar Instant-Nudeln sind auch nicht zu verachten. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob dies im Rahmen des Reglements wirklich erlaubt wäre, aber letztendlich ist es dasselbe, wie das Angebot an den Kontrollstellen anzunehmen. Und ich bin auch nicht der einzige, der mit Fahrrad an diesem Hotel auftaucht. Wer schnell genug ist, könnte Montag abends hier eintrudeln und eine volle Nacht schlafen, bevor es zur Kontrolle weitergeht.

Ich muss mich, wie gesagt, mit einer knappen Stunde zufriedengeben. Nach dem schweren Abschied von Sandra geht es weiter, und ich ahne jetzt schon, was sich in den nächsten 24 Stunden bewahrheiten wird: die nächsten paar hundert Kilometer werden zu einem Wettlauf gegen die Uhr, um an den Kontrollstellen im Zeitlimit zu bleiben.

Aber der Rückweg von Brest fängt vielversprechend an: die Abfahrt vom Hinweg entpuppt sich als nur mäßig steile Steigung beim Weg zurück, das Wetter ist uns auch wohlgesonnen, und man hat nun den psychologischen Vorteil, dass man sich mit jedem gefahrenen Kilometer dem Ziel nähert. Auf dem Hinweg war das Gegenteil der Fall, was einen hin und wieder zweifeln ließ.

Kontrollpunkt in Loudéac gegen Mitternacht
Kontrollpunkt in Loudéac gegen Mitternacht

Nachtruhe

Eine bemerkenswerte Erfahrung bei Paris-Brest-Paris ist, dass quasi überall entlang der Strecke Radfahrer am Straßenrand liegen oder sitzen und schlafen. Unter Bäumen, in Hauseingängen, an Bushaltestellen… ich habe mich die ersten etwa 800 Kilometer gefragt, wieso die Leute nicht an den Kontrollstellen schlafen, wo es deutlich wärmer ist. Aber diese Nacht erwischt es mich. Nach der Kontrolle in Loudéac fahre ich noch 30 oder 40 Kilometer weiter, teils allein, teils in der Gruppe, bis ich fast auf dem Rad einschlafe und von der Straße abkomme. Nein, das geht nicht, in diesem Zustand sehe ich keine Möglichkeit, die Versorgungsstelle in Quedillac, wo ein warmer, überdachter Platz auf mich warten würde, zu erreichen. Als ich ein Haus sehe, an dem ich mich in eine Ecke setzen könnte, halt ich an. Schnell habe ich alles angezogen, was ich dabei habe, die Regenjacke wird um die Beine gewickelt und hilft auch ein bisschen. Den Wecker stelle ich mir auf eine halbe Stunde später, und dann fallen mir schon die Augen zu.

Ich wache auf. Etwas über eine Stunde später. Keine Ahnung was mich geweckt hat, aber den Wecker vom Handy habe ich natürlich nicht gehört. Dann brauche ich noch ein paar weitere Minuten, um zu realisieren, wo ich bin und was ich hier mache. Ach ja, Paris-Brest-Paris. Die Kontrolle!!! Scheiße. Schnell das Zeitfenster im Stempelbüchlein mit meiner Uhr verglichen. Oh je, das wird eng. War es das mit der Homologation? Hat dieser Schlaf jetzt dafür gesorgt, dass ich nicht im Zeitlimit ankomme? Ich steige auf’s Rad und fahre lost. Wie ein Wahnsinniger. Knapp 50 Kilometer Sprint erwarten mich jetzt. Ich nutze jeden Windschatten, den ich kriegen kann, und lasse auch eine ganze Reihe anderer Teilnehmer zurück. Hoffentlich halte ich das durch.

In Quedillac dann Entwarnung: Noch 26 Kilometer und zwei Stunden. Das sollte ich schaffen. Und bis zum Kontrollpunkt gibt es nur noch leichte Steigungen. Letztendlich komme ich über eine halbe Stunde vor Kontrollschluß in Tinténiac an. Es ist knapp zehn Uhr morgens, eine Live-Band spielt, und es werden bretonische Tänze aufgeführt. Ich fülle jedoch erstmal meinen Magen: eine heiße Suppe, Hühnchen, Nudeln. Keine Schlange beim Essen. Und billiger als vorletzte Nacht ist es auch. Erfahrungen, die man sammelt, und die einem helfen, wenn man in vier Jahren nochmal teilnimmt. Wenn.

Der Spirit von Paris-Brest-Paris

Der nun folgende Nachmittag wird der schönste der ganzen Veranstaltung. In fast allen Dörfern stehen Menschen an der Straße und bieten dir Kaffee an, dazu Kuchen oder Kekse. Wasser sowieso. Nach dem Füllen meiner Flaschen habe ich kaum einen halben Liter getrunken, da komme ich schon an der nächsten Nachfüllmöglichkeit vorbei. Dazu eine schöne Landschaft. Bei dem Gegenwind auf der Hinfahrt habe ich diese gar nicht richtig wahrgenommen, jetzt schon. Ich halte so oft es mir die Zeitfenster an den Kontrollen erlauben an, um etwas zu essen, einen Kaffee zu trinken, und mich mit dem Menschen zu unterhalten. Man bekommt Lust, selbst wenn man nicht wieder teilnehmen sollte, in vier Jahren hier zu sein und einfach nur die Atmosphäre am Straßenrand mitzuerleben. Oder den Leuten dabei zu helfen, die vorbeifahrenden Teilnehmer zu versorgen. Dieser Nachmittag alleine lohnt den ganzen Rest, und stellt das Besondere dar, das Paris-Brest-Paris ausmacht. Und weswegen es sich lohnt, hier mindestens einmal im Leben mitzumachen.

Crêpes-Stand in La Tannière
Crêpes-Stand in La Tannière

Die folgende Nacht hat dann noch ganz andere Erfahrungen parat. Nach der Abfahrt aus Villaines-La-Juhel – die 1000km-Marke ist überschritten – fühlt man sich schon fast im Ziel. Weiterhin halte ich an den Verpflegungsmöglichkeiten an und unterhalte mich mit den Menschen. Ein Riesenkaffee in Villaines verleiht mir vielleicht Flügel, und ich fahre schell genug, um den Zeitdruck ein bisschen zu reduzieren. Aber dafür macht nun mein Bewußtsein mit mir, was es will. Zwischen Mamers und Mortagne-au-Perche bin ich mir sicher, diese Strecke schon einmal gefahren zu sein. Eine Ortschaft vor der Ankunft an der Kontrolle in Mortagne ist links eine Art Fete im Gange. „Die schon wieder“ denke ich, und dass man nach der Kontrolle ja mal auf der Fete vorbeischauen könnte. Was natürlich Quatsch ist. Genauso wie das Gefühl, diese Strecke schonmal gefahren zu sein. In Mortagne schlafe ich knapp 20 Minuten auf drei zusammengestellten Stühlen, dann geht es weiter.

Neben der Erinnerung an ein Streckenstück, von dem mein Geist mir versucht einzureden, ich sei es schonmal gefahren, gibt es einen weiteren Effekt. Wenn man nachts die Landschaft nicht sieht, baut das Gehirn sich seine eigene. Man denkt, statt einer Straße an einem Berghang fahre man eine Rampe hinauf, bei der es auf beiden Seiten in tiefe Schluchten ginge. Nach der Abfahrt von der Kontrolle fahre ich durch einen verwunschenen Wald, durch nicht-vorhandene Tore und unter riesigen Bäumen durch, die es nicht gibt. In der Morgendämmerung wähne ich mich auf einem Radweg in Meeresnähe, in Wirklichkeit bin ich auf einer Hauptstraße weit weg von Wasser. Man fährt wie in einem Traum. Das ist nicht nur schwierig, sondern auch nicht ganz ungefährlich. An einem Radlerunfall fahre ich vorbei, und ich denke, wenn mein Kopf so weitermacht, kann mir das auch passieren.

Ankunft im Ziel

Nach der letzen Kontrolle in Dreux bin ich etwas wacher, aber immer noch nicht näher an der Realität. Ich denke darüber nach, anzuhalten und auf Google Maps zu verifizieren, dass ich wirklich nach Rambouillet fahre. Könnte ja sein, dass die ganzen Radfahrer um mich rum zu einer ganz anderen Veranstaltung gehören… Es ist wirklich bemerkenswert, wie man sich selber durch Schlafentzug in eine Art Zombie-Modus versetzen kann. Man fährt durch eine Traumwelt, eine parallele Wirklichkeit. Aber solange man unfallfrei fährt, kommt man wenigstens dem Ziel näher. Ich kehre erst so drei Kilometer vor Rambouillet in die Wirklichkeit zurück. Die Einfahrt zum Park, dann rechts abbiegen Richtung Ziel – das sind bekannte Bilder. Dann komme ich an. Knapp 88 Stunden. Ich kann’s nicht fassen. Ich habe tatsächlich an Paris-Brest-Paris teilgenommen. Und es geschafft. Wahnsinn!

Im Ziel von Paris-Brest-Paris
Im Ziel von Paris-Brest-Paris

Neben Sandra erwartet mich Daniel vom Cyclo-Club Mandallaz, von dem ich im Radurlaub Pascal kennengelernt hatte. Wir machen Fotos, ich erhalte den letzten Kontrollstempel und meine Medaille. Und dann geht es erstmal ins Hotel. Schlafen.

Aber nach nur einer Stunde werde ich geweckt. Paulina und Joaquín aus Chile sind da, und wir wollen gemeinsam zur Abschlußveranstaltung. Es erstaunt mich, dass ich in meinem Zustand Autofahren kann, aber es geht. Zum Abschluß gibt es ein Buffet, mit Wein. Für alle, die da sind. Wie cool ist das denn? Man muss nichts bezahlen, muss auch seine Teilnahme nicht nachweisen, man geht einfach rein, stellt sich in die Schlange und nimmt sich. Teilnehmer, Angehörige, Freunde, Fans. Alle sind eingeladen. Das gibt extra Pluspunkte für eine Veranstaltung, die meine Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern deutlich übertroffen hat. Und die meinen Körper und meinen Geist in Regionen geführt hat, von deren Existenz ich nicht einmal etwas ahnte.

Am nächsten Morgen treten wir die Heimfahrt nach Deutschland an, und diese 1200 Kilometer, sowie das ganze Drumherum, werden mir sicher lange in Erinnerung bleiben. Eine Reise nicht nur nach Brest, sondern tief ins Innere meiner Selbst. Und dazu perfekt organisiert. Absolut empfehlenswert für jeden Langstrecken-Radfahrer!