An diesem 15. Dezember nähern wir uns immer mehr unserem Ziel, der Karibikinsel Guadeloupe. Etwas über dreihundert Seemeilen fehlen noch, also etwa zwei Tagesetappen. Ich rechne im Kopf schonmal durch, dass die „Land in Sicht!“-Situation, auf die hier alle warten, wohl am 17. Dezember in der Vormittagswache kommen müsste, also wenn Günter und ich am Ruder sind. Nicht ohne dass Marc mir direkt klarmacht, dass auch er plant, zu dieser Zeit an Deck zu sein, Wache hin oder her.
Gewichtige Gesellschaft
Plötzlich turnt Roland wie wild an Deck herum. „Ein Wal, ein Wal!“ schreit er. Natürlich auf Österreichisch, aber wir verstehen es trotzdem. Alle stürmen an Deck. Wer jetzt Moby Dick erwartet, wird natürlich enttäuscht. Aber ein großes, graues Etwas ist da knapp unter der Wasseroberfläche an Steuerbord zu sehen, bevor es unter dem Boot durch- und an Backbord wieder auftaucht. Und wieder zurück. Dann noch ein zweiter, kleinerer. Wow! Die nächsten 30 Minuten verbringen alle mit Kameras oder Handys irgendwo an Deck, um das Spektakel auch fotografisch oder filmisch festzuhalten. Es ist aber auch beeindruckend anzusehen. Zuerst natürlich die Tatsache, dass man diese Riesen der Ozeane selbst dann unter Wasser erspäht, wenn sie gute 60 oder 80 Meter vom Boot entfernt sind. Dann kommen sie näher, drehen sich wie Delphine auch schon mal auf den Rücken, so dass man die hellere Unterseite zu Gesicht bekommt. Dann durchbrechen sie die Wasseroberfläche, blasen eine Fontäne in die Luft, und verschwinden wieder. Kurz darauf sieht man sie dann links oder rechts vom Boot, bevor sie erstmal wieder aus dem Blick verschwinden. Und wenige Minuten später wiederholt sich das Schauspiel.
Peter ist etwas weniger enthusiastisch als der Rest. Er ist ein wenig besorgt, da alle nur eine möglichst gute Sicht haben wollen, mit der Kamera in der Hand, und sich irgendwie keiner mehr richtig festhält. Ein Stoß des größeren der beiden Wale gegen einen der Rümpfe, und wir purzeln alle kopfüber in den Atlantik. Aber zum Glück ist die Ketoupa noch ein Stück größer als die beiden Meeressäuger, so dass diese wohl nicht wirklich einen Spielkameraden in ihr sehen.
Deutlich kleiner (aber groß genug) ist dagegen der Mahi-Mahi, der irgendwann am Abend am Angelhaken hängt. Nun hat sich das Angeln als eher seltene Beschäftigung an Bord herausgestellt, da wir meist einfach zu schnell sind. Bei acht Knoten Fahrt zerreißt es einem Fisch am Haken eher das Maul, bevor man ihn an Bord hat. So gab es auch nur einmal bisher einen kleinen Mahi-Mahi-Snack. Aber das, was Roland heute an Bord hievt, das reicht für ein ausgewachsenes Abendessen. Zunächst mal muss das arme Tier ins Reich der Toten befördert werden, und dazu erscheint von den Bordmitteln ein schwerer Hammer am geeignetsten. Oder, wie Roland sich ausdrückt, „Der Totschläger bin i.“
Ein letztes Mal das Groß shiften
Wenn es dem Ende eines solchen Segeltörn entgegengeht, tauchen auf einmal eine Menge Aktivitäten auf, die „ein letztes Mal“ zu machen sind. Ein letztes Mal Wäsche waschen, ein letztes Mal dieses oder jenes Menü kochen, und so weiter. Auch die Segelmanöver, die in den verbleibenden Tagen noch kommen werden, sind wohl überschaubar. Während der Wachübergabe an Markus und Marc heißt es daher „Ein letztes Mal das Groß shiften“. Was aber bedeutet das genau? Wir fahren seit den Kapverden eigentlich vor dem Wind. Da man aber bei einem Kat das Segel nicht ausreichend öffnen kann, ist es mehr ein extremer Raumschotskurs. Im Moment kommt der Wind „schräg von hinten links“ (ich weiß, so sollte man als Segler nicht reden), und wir haben das Großsegel auf der Steuerbordseite. Da der Wind, der vorher aus Südosten kam, mittlerweile auf Ostnordost gedreht hat, müssten wir nach Südwesten fahren, um mit dieser Segelstellung glücklich zu sein.
Da das aber nicht unser geplanter Kurs ist, wird das Segel jetzt nach Backbord geshiftet. Dazu lösen wir den Bullenstander und fahren eine Halse, dadurch drückt der Wind das Segel nach Backbord, und wir fahren nach Westnordwest. Danach muss der Bullenstander auf der anderen Seite wieder angebracht werden.
Wie ihr merkt, ist das Ganze etwas aufwändiger als eine „normale“ Halse, so dass man idealerweise den Kurs und die Segelstellung je nach Windvorhersage zumindest für einige Stunden im Voraus plant. Und da man bei obigem Manöver am Bullenstander auch ein bißchen Kraft braucht, bietet es sich an, das Ganze zu viert während der Wachübergabe zu machen. Gesagt, getan.
Man möge mir die seglerischen Fachbegriffe verzeihen, aber dafür verlinke ich ja sehr oft zu Wikipedia, so dass der Nicht-Fachmann hier noch etwas lernen kann. Denn unglücklicherweise hat sich am Nachmittag auch noch der Schäkel, der die Großschot mit dem Traveller verbindet, gelöst und verformt (aufgebogen), so dass wir ihn durch einen anderen ersetzen mussten. Und da kein gleichwertiger Ersatz vorhanden war, haben wir einen deutlich schwächeren genommen. Dem traut natürlich im Falle ruckartig angreifender Kräfte keiner so richtig über den Weg, so dass wir versuchen wollen, im restlichen Verlauf des Törns das Groß möglichst wenig zu shiften. Daher hoffen im Moment alle, dass es am heutigen Abend das letzte Mal war.
Enge Begegnung
Der folgende Tag (Montag, 16. Dezember) verläuft soweit ruhig, bis auf einen Ausfall der Anzeigen auf der Flybridge, welcher aber mit einem Reset behoben werden kann. Dann fährt man halt ein paar Minuten „blind“, aber das geht durchaus. Nur die Wettervorhersage, die wir täglich per SMS aus Europa bekommen, macht uns ein wenig Sorgen. „Risk of Squalls“ heißt es da. Squalls sind kurzfristige Windböen, meist einhergehend mit Starkregen oder Gewittern, deren Windstärke den durchschnittlichen Wind deutlich überschreiten kann. Also gehen wir noch vor dem Abendessen ins zweite Reff, und aufgrund der veränderten Windrichtung wird erneut ein letztes Mal das Groß geshiftet, dieses Mal nach Steuerbord.
Apropos Abendessen: Heute gibt es den gestern erlegten Mahi-Mahi. Mit Reis und Gemüse garniert landet das gute Stück komplett auf dem Tisch, und die Filets wandern vom Fisch direkt auf den Teller. Dazu gibt es selbstgebackenes Brot und kaltes Bier. So läßt sich’s leben.
Als gegen Mitternacht die „Tagada“, eine zwölf Meter lange, ebenfalls unter französischer Flagge fahrende Segelyacht an Steuerbord auftaucht, erweist sich das auf Steuerbord stehende Groß als Problem. Sie fährt etwa so schnell wir wir, und kommt immer näher. Nach geltenden Ausweichregeln müssten wir jetzt eigentlich abfallen und hinter ihr vorbei, was aber nur möglich wäre, wenn wir vorher das Groß shiften würden. Als sie keine hundert Meter mehr weg ist, entscheiden wir uns im letzten Moment, ein wenig anzuluven, wodurch wir dann erstmal parallel zur Tagada fahren, aber durch die veränderte Stellung des Segels zum Wind nun deutlich schneller. Puh, das war knapp. Und das AIS hat sie noch deutlich weiter entfernt verortet, was nicht nur die Wichtigkeit der Lichterführung bei Nacht, sondern auch die eines aufmerksamen Wachgängers unterstreicht.
Nach ein paar bangen Minuten ändert die Tagada ihren Kurs und fährt nun ihrerseits hinter uns durch, während wir nun wieder abfallen und erneut Kurs auf Guadeloupe nehmen können. Und als Günter und ich uns um halb drei in die Kojen begeben, ahnen wir nicht, was der nächsten Wache noch bevorsteht.
Squalls am Morgen
Denn diese letzte Nacht legt sich nochmal so richtig ins Zeug. Nach unserer Beinahe-Kollision mit der Tagada geht es morgens um vier mit den Squalls los. 42,5 Knoten wird man uns später erzählen. Und dass der Regen waagerecht über die Flybridge rauscht. Als ich am Morgen an Deck erscheine, in Erwartung wärmender Sonnenstrahlen und des baldigen Auftauchens von Guadeloupe am Horizont, sitzen da mehrere verfrorene Gestalten in voller Montur auf der Flybridge. Alles ist nass, und im Südosten ist der Himmel so schwarz, wie ein Himmel tagsüber nur sein kann.
Wie ich bereits an einem anderen Tag festhalten durfte: Lieber zu früh reffen als zu spät. Peter, unser umsichtiger Skipper, hat mit dem zweiten Reff am Abend die richtige Entscheidung getroffen. So sind wir dieses Mal von umherfliegenden Kaffeekannen oder gar größeren Schäden verschont geblieben.